Sie schwebt in einem leeren Raum. Die Last ihres Körpers ist fort, der sie an die Welt fesselte. Dichter, undurchdringlicher Nebel streicht über ihre Seele. Diffuse Lichter in der Ferne, flackernd, stumpf, schwer auszumachen. Sie verschwinden, sobald man sie ansieht.
Sehen. Es funktioniert so anders jetzt. Sie blickt nicht durch Augen um sich, nicht mehr durch ihre Wimpern hindurch, an ihrer Nase vorbei. Alles um sich herum nimmt sie wahr, alles, was hinter ihr, vor ihr, über ihr und unter ihr ist. Frieden erfüllt sie. All die Schmerzen... fort? Ja, Da waren Schmerzen. Doch sie kann sich nicht erinnern. Sie spürt, da war ein Leben - kein langes, aber ein tiefes Leben - aber jetzt ist es fort und spielt keine Rolle mehr. Sie ist Auryn Tar'Iareth, und... es gibt etwas, das sie tun muss. Nun, da es ihr klar wird, spürt sie diesen Drang, der schon die ganze Zeit unter der Oberfläche schlummerte. Etwas, das sie tun... ein Ort, an den sie gehen muss. Ja... das scheint ihr richtig. Sie darf nicht in diesen Nebeln zurückbleiben, oder der Friede, den sie spürt, wird vergehen. Es ist nur der Weg... an einen anderen Ort. Der Weg, den sie nun gehen muss. Doch Auryn kann sich nicht rühren. Sie wüsste nicht, wie. Als sie noch einen Körper hatte, da konnte sie ihren Füßen befehlen, sie zu bringen, wohin sie auch immer wollte. Nun ist alles anders.
Wie still es ist. Keine Geräusche. Kein Herzschlag mehr, nicht ihr Atem, der sonst immer bei ihr war... auch in Momenten der größten Stille um sie herum. Nur der Nebel, der sie zu berühren vermag, um sie herum in dichten Schlieren zieht und zerfasert.
Plötzlich ist da noch etwas anderes. Jemand anderes, direkt bei ihr. Eines dieser Lichter... flackernd und unstet und... es empfindet. Sie begreift, dass es ist wie sie... eine Seele, frei von ihrem Leib, mitten in diesen Nebeln. Und irgendwo jenseits von dem, woran sie einen anderen Menschen sonst erkennt... realisiert sie, es ist eine der kleinen Skata. Eine Elster kurz vor ihrer Weihe, um Fassung bemüht angesichts des Schlachtfeldes. Aber darüber nachzudenken, ist schwer. Darüber nachzudenken... was vorher war.
'Ich finde den Weg nicht! Ich kann mich nicht bewegen...', vernimmt sie ein Flüstern. Es durchbricht die Stille und macht Auryn klar, dass selbst wenn sie sich regen könnte... da nur der Nebel wäre und nichts als der Nebel in alle Richtungen, und nicht das Wissen, wohin sie gehen muss.
Dabei war es immer ihre Aufgabe, anderen zu sagen, wohin sie gehen sollten. Sie weiss es noch. Andere sahen zu ihr auf und warteten darauf, dass sie ihnen den Weg wies. Und sie tat es. Es ist verstörend, der Kleinen nicht sagen zu können, was sie nun tun muss... hier sind sie gleich, das junge Mädchen und sie, die... gar nicht so viel älter war an Jahren, doch an Erfahrung. Man wird schnell erwachsen im Norden. Und niemals ist man ganz Kind, wenn man schwarz und weiss und eine Waffe trägt.
Sie möchte etwas sagen. Irgendetwas sagen, um ihr wenigstens Trost zu geben.
Ja... auch das weiss Auryn noch. Trost ist das letzte Gefühl, wo kein Rat mehr ausgesprochen werden kann. Auch das beherrschte sie gut. Eine sanfte Stimme und Zuversicht. Und so viele Menschen, die sich danach sehnten. Wenn ihnen die Heilkunst nicht mehr helfen konnte und die letzten Sekunden ihrer Existenz sie mit Furcht erfüllten.
Auryn kann nicht sprechen. Wie hat die Skata das getan? Sie selbst, die Elster, bringt keinen Ton heraus. Da ist ein unangenehmer Druck auf ihrem Brustkorb.
Ihr Götter. Sie erstickt! Panik steigt in ihr hoch. Sie bekommt keine Luft!
Aber... atmen? Weswegen? Ihr Körper ist fort, das macht doch überhaupt keinen Sinn...
Ein harter Schlag trifft ihren Brustkorb. Noch einer. Und noch einer. Und mit einem Mal weiss Auryn Tar'Iareth wieder, was Schmerzen sind. Sie sind überall. Sie rasen durch sie hindurch und jedes ihrer Nervenenden scheint in Brand zustehen. Ihre Augen... ihre Augen! Sie stehen in Flammen, schwarzen, verzehrenden Flammen, und sie ist blind...
Der nächste Schlag bricht ihr eine Rippe. Sie hört es bersten, und die Pein bringt sie bis an den Rand ihres neu gewonnenen Bewusstseins.
Lippen legen sich auf ihre. Sie sind rau und aufgesprungen und schmecken nach Blut. Verflucht, das ist neu. Sie ist eine Elster, und niemals hat sie fremde Lippen auf ihren gespürt. Es kratzt. Ein Bart?
Luft in ihren Lungen! Verflucht, das tut so weh! Doch da ist Luft und sie spürt, wie sehnsüchtig ihr Körper den Sauerstoff aufnimmt. Diese Lippen schenken ihr Atem, drei, vier tiefe Züge, die die Panik vertreiben. Sie muss nicht ersticken. Jemand tut für sie, was sie nicht kann. Jemand atmet. Wieder ein Schlag. Ein neuerliches Knacken. Ihr wird schrecklich übel. Sie hat gelernt, Schmerzen zu ertragen. Dies hier jedoch ist nicht vergleichbar mit irgendetwas, das sie kennt. Der nächste Schlag trifft sie.
Und dann, plötzlich, dröhnt es in ihrem Körper. Sie braucht eine Weile, bis sie begreift, dass es ein Herzschlag ist. Wo zuvor keiner war. Wie still es ist, ohne ein schlagendes Herz. Blut schiesst durch ihren Leib. Irgendetwas stimmt da nicht. Alles fühlt sich zerschlagen und verkehrt an. Sie kann sich immer noch nicht rühren. Doch ihr stures Herz treibt Blut durch ihre Adern, zuckt unter dem Käfig aus gebrochenen Knochen.
Wieder senken sich die fremden Lippen auf ihre, gerade, bevor die Angst wiederkam. Wieder findet kalte Luft ihren Weg in ihre Lungen. Hände halten ihr Gesicht. Sie spürt Finger, wärmer als ihre Haut, aber immer noch fürchterlich kalt. Sie riecht Blut und Rauch und den Gestank des Todes überall um sie herum, sie riecht Leder und das Öl, das die Soldaten für ihr Rüstzeug verwenden. Ein Kettenhemd schabt über Schulterplatten. Ein Atemzug. Noch einer. Plötzlich weiss sie wieder, wie es geht. Keuchend holt sie Atem, und die Luft ist so eisig, dass sie fast das Bewusstsein verliert. Die Hände, die ihren Kopf bergen, zucken kurz.
"So ist's Recht...", hört sie jemanden sprechen. Eine tiefe, raue Männerstimme, die sie nicht kennt.
"Atmen... ganz langsam, ist genug Luft für uns beide da, hm? Genau... ruhig, ganz ruhig, ich halt' dich fest... nimm dir noch 'n Moment, bevor du was sagt, komm erstmal wieder zu Atem..."
Ein leises Lachen, es klingt... gebrochen. So unendlich erschöpft.
"S' ist ja auch nicht so, als gäb's jetzt viel zu sagen... naja... nichts, oder 'ne Menge, möcht' ich meinen... und wir seh'n beide nicht aus, als könnten wir noch sprechen... wir seh'n ja nichtmals aus, als könnten wir noch leben..."